Kultur kennt keine Grenzen

Seit vielen Wochen wird im Internet und auf der Burg Posterstein in Thüringen gefragt: „Was bedeutet Europa für dich?“ und seitdem gehe ich mit dieser Frage durch die Tage in meiner kleinen Welt. Im Sommer, im Urlaub, war ich am westlichsten Ende Europas, in Portugal und schaute über das Meer. Damals schrieb ich schon etwas auf Instagram

Europa ist für mich erst seit 1989 offen zugänglich. Vorher lebte ich in einem Land, das keine offenen Grenzen hatte und ich hatte auch wenig Hoffnung, diese allzu engen Grenzen bald überwinden zu können. Maximal sozialistische „Bruderländer“ standen uns offen. Familienbande waren in diesen Zeiten sehr wichtig, man konnte kaum öffentlich diskutieren und so war unser Küchentisch unser Diskussionsforum. Oft hieß es: „DAS bleibt aber an diesem Tisch!“ Und wir alle hatten verstanden, dieses „Draußen-Nichtserzählen“ war lange Zeit mein Begleiter, auch nach der Wende. In der Schule bekam man manches „eingeimpft“ und wiederholte brav, wenn es sein musste, auch wenn man nicht dahinterstand. „Durchzug“ war an der Tagesordnung und zu Hause versuchte man, durch Großeltern und Eltern die große, weite (kulturelle) Welt zu entdecken, die uns zu großen Teilen unbekannt war. Meine Familie wollte hier in Sachsen zusammenbleiben, sich nicht trennen von der Heimat unserer Vorfahren, die im Böhmischen bzw. der Oberlausitz und im Vogtland zu Hause waren. Meine Eltern entschieden sich für Dresden.

Meine Familie stand dem staatlichen System der DDR kritisch gegenüber (der Großvater war Kantor, die Eltern kirchliche Mitarbeiter, wir Kinder sprachen kein Jugendweihe-Gelöbnis und durften deshalb auch nur auf wenig staatliche Förderung hoffen). Ich war 17, als endlich alles zusammenstürzte und mir stand plötzlich vieles genau zur richtigen Zeit offen. Europa rückte in mein Blickfeld und ich begann es begeistert zu erkunden.

Soviel hatte ich schon über all die europäischen Länder gehört. Ich sammelte als Kind Postkarten und sehnte mich nach all den Orten, die ich darauf sah. Mein Großvater hatte noch Karten aus dem Krieg aus Italien und Afrika, wo er als Soldat war (er erzählte uns von Spiegeleiern, die in Afrika auf Motorhauben gebraten wurden, vom Vesuv… oft verstummte er mittendrin abrupt und saß lange schweigend da… ich verstand es damals noch nicht, er starb, als ich 13 war, wieviel würde ich ihn heute gern fragen). Ich schwatzte Freunden und Bekannten weitere Karten ab und baute mir so meine eigene kleine Reisewelt zusammen. Ich hörte viel klassische Musik und las die Biographien all der Komponisten, stellte mir vor, wo und wie sie gelebt haben… Bach, Brahms, Mozart (wieviel er reisen durfte/musste?!), Sibelius und all die anderen. Klassik war mir schon immer wichtiger als alles andere, standen da doch uralte Geschichten dahinter. Ich hörte die Musik, spielte sie und machte mir ein eigenes, kindliches Bild von den dazugehörigen Orten. Später musste ich diese Bilder dann oft korrigieren, denn nun kann ich all die Orte bereisen und das ist wunderbar! Aber damals war das mein Reisen, es ging nicht anders.

Moderne Unterhaltungsmusik war für mich meist uninteressant, ich hörte sie so nebenbei, füßewippend, ohne viele Namen zu kennen, meine Schwester schwärmte von irgendwelchen Stars… Stars interessierten mich nicht, die West-Stars waren oft unerreichbar hier im Tal der Ahnungslosen ohne Westsenderempfang (nur einen Radiosender konnten wir empfangen) und ich war genervt von meinem älteren Bruder, der ständig den einzigen Rekorder blockierte, wo er leiernde Kassetten seiner Freunde abspielte, die irgendwoher irgendwelche Westmusik hatten (ich war eh nur die kleine Schwester und nervte wohl, wenn ich fragte, wer da sänge). Der Schallplattenspieler war immer frei, funktionierte mit einem uralten Röhrenradio, wir hatten viele Platten und das war gut so. Meine eigene kleine Welt, mit 14 bekam ich einen eigenen und im Plattenladen stand ich oft Schlange. 🙂

Damals, vor 1989, waren oft viele Nachbarn, Familien mit meinen Freunden aus der Schule, plötzlich über Nacht verschwunden, nachdem sie lange auf die ersehnte Ausreisegenehmigung gewartet hatten. Viele Freundschaften endeten sehr abrupt, über Nacht. Wie viele gingen? Wer blieb? Es wurde einsamer, im Sommer ´89 wurde der Satz: „Der Letzte macht dann bitte das Licht aus!“ zum geflügelten Wort. Aber wir blieben. Aus heutiger Sicht war das für diesen Landstrich der zweite große Aderlass (erst die Judenvernichtung und Kriegsverluste und dann viele „Westflüchtige“). Wer blieb, ist heute noch da, unter ihnen viele Unzufriedene, die nie aus dem Knick kamen oder frühere Bonzen, denen heute die Galle überläuft. Aber auch viele „Macher“, die es gewohnt sind, zu schaffen, nichts allzu offen preisgeben oder sich öffentlich zeigen, die damals schon „durchkamen“ und immer freier dachten, als sie sollten. Die, die dazukommen oder wiederkommen, verstehen diese Lebensart oft nicht. Junge Leute gehen oft weg.

Nach der Wende mussten viele erleben, dass ihre Abschlüsse nichts mehr wert waren, dass ihnen ihr ganzes schönes Leben zusammenbrach und um die Ohren flog. Stasispitzel flogen auf, Wanzen wurden gefunden, Fabriken wurden eingestampft, Autos waren nur noch stinkender Pappschrott, in der Schule ging´s in Geschichte wieder zur Steinzeit zurück und keiner wusste, was wir 1990 für´s Abi wissen mussten… naja. Wir selbst waren froh, die Freiheit war endlich da (mehr erzähle ich nicht, zu privat.). Es begann eine frohe, aber auch sehr herausfordernde Zeit. Herausfordernd waren wir gewohnt, andere allerdings nicht. Frohgemut schafften wir und wunderten uns über die, die immer mehr zurückblieben. Zeit verging, Straßen wurden gebaut, Städte saniert, Menschen vergessen… Das spüren wir jetzt gerade.

Ja, in Zeiten wie diesen, wo uns die jüngste Vergangenheit beginnt, allmontäglich (zumindest in meiner Stadt) auf die Füße zu fallen, müssen wir dieses Haus „Europa“ pflegen, sonst stürzt es vielleicht ein… das politische Europa, dieser große Koloss mit einem komplizierten Verwaltungsapparat… das politische Europa, das versucht, viele verschiedene Staaten zu einen. Das ist groß gedacht, aber kommen da wirklich alle mit? Ist an all die Menschen im kleinen Kämmerlein, in unserer Stadt, unserem Bundesland, unserem Land/Nachbarland gedacht?

Meinen Instagram-Beitrag aus dem Sommer las ich noch oft durch, dachte ich doch über diesen Blogbeitrag nach und je länger ich darüber nachdachte, umso mehr komme ich zu der Ansicht, dass das kulturelle Europa schon immer unabhängig und durchlässig von jeglichen politischen Grenzen war, die uns Menschen seit Jahrhunderten durch Macht aufgedrückt wurden, dass dieses kulturelle Europa für immer Zuflucht für mich sein wird. Was interessieren schon den kleinen Europäer Grenzen und Machtverhältnisse, davon waren die Menschen zu allen Zeiten zwar abhängig, aber die Kultur blieb frei. Architektur, Malerei, Musik… all das lässt sich nicht aufhalten an menschgemachten Grenzen. Mauern, Zäune und Kriege können nichts aufhalten, nur Wege ändern. Als einzelner Mensch muss man zusehen, wie sich die großen Räder der Macht drehen, steht ziemlich hilflos daneben, einzig bemüht, nicht unter die Räder zu kommen.

Als Orchestermusikerin kommt man immerzu mit verschiedensten Epochen in Berührung, spielt jede Woche andere Werke vieler verschiedener Komponisten aller Epochen, taucht manchmal sehr tief ein, manchmal weniger. Durch Kammermusik erweitert sich der zu betrachtende Horizont noch einmal. Eine riesige Welt. Da „zeitreisen“ heutzutage leider immer noch nicht möglich ist 😉 , muss jeder wie seit eh und je versuchen, Zusammenhänge im Nachhinein zu verstehen. Dieses Verstehen kann einem niemand abnehmen, das kann nur jeder für sich. (Natürlich könnte man die Noten auch schön abspielen und fertig ist das Wohlfühlkonzert, aber das wäre für mich zu einfach, „am Thema vorbei“ und dient nur dem bloßen Konsum.)

Früher war es normal, dass Musiker auch Reisende waren, durch Spielmänner verbreiteten sich Moden und Stile, durch Poeten und Maler, die länger an Höfen weilten, Dichtkunst und Malerei, durch fahrende Gesellen, die oft monatelang an Kathedralen und sonstigen Gebäuden bauten, verbreiteten sich Baustile, später die reisenden Virtuosen, die durch die Salons Europas tourten. Heute reist man rasant und viel oberflächlicher, knippst überall schnell ein paar Fotos, stopft sie in Internet-Social-media-Kanäle in „Ich-war-hier-Manier“, hat kaum Zeit für lange Gespräche, manche Shoppingmall-Städte sehen sich zum Verwechseln ähnlich und die Leute erst! … wären da nicht noch heute uralte Spuren der langsamen Reisenden aus längst vergangenen Zeiten versteckt, die man suchen muss.

Wagen wir mit Stefan Zweig einen kurzen Rückblick in „Die Welt von gestern“ oder ist es ein Blick in das Heute?

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Zitat aus „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig

Ich weiß es nicht, vielleicht war es schon immer so, dass Kultur und Politik nebeneinander liefen und die Menschen nicht merkten, dass sie nah am Abgrund standen, sich lieber in die kulturelle Welt zurückzogen, die noch nie unterging? Vielleicht sind es ja zwei Welten? Stehen wir heute wieder am Abgrund? Hoffen wir es nicht, es gibt heutzutage so viele Möglichkeiten, Herz für ein friedliches Europa zu zeigen, wir sollten diese Möglichkeiten nutzen, sollten viel mehr zwischen diesen beiden Welten pendeln, denn beide sind für uns überlebenswichtig.

Der mitteldeutsche Raum bietet so viele Geschichten, da wird man an jeder Ecke, in jedem Dorf fündig. Ich spüre diesen Dingen gern nach und lerne so sehr viel über europäische Zusammenhänge. Nimmt man allein nur die Großfamilie Bach und ihre Freunde, die gemeinsam über einige hundert Jahre das Musikleben Mitteldeutschlands bestimmten, es auch nicht leicht hatten und mit Krieg und Seuchen zu kämpfen hatten, stößt man an europäische Grenzen und so geht es Epoche für Epoche weiter bis heute. In nahezu jeder Stadt, jedem Dorf findet man solche „Fäden“, wo man nur ziehen muss und es purzelt europäische Geschichte hervor. Wir sollten uns wieder erinnern an die „langsamen“ Prozesse des Wachsens, an die Dinge, die unsere Welt füllten, sollten uns ebenso langsam schauend bewegen, um all das sehen zu können, ohne in traditioneller Beweihräucherung oder verhärteten politischen Grenzen stecken zu bleiben. Wir sollten über das reden, was über Länder- und Kontinent-Grenzen hinweg zu uns kam und was Teil unserer Kultur wurde, denn davon gibt es mehr als manche denken. Erinnern wir an Vergangenes, manches wurde versucht, auszuradieren, aber es gehört dazu, erkennen wir es als Verlust. Nur aus diesen kulturellen Zusammenhängen heraus können wir das politische Europa bewahren und weiterentwickeln. Wir sollten all das mit unseren Nachbarn in „Salons“ diskutieren. Ob dieser Salon nun im eigenen Wohnzimmer, am Küchentisch oder im Internet ist… das ist vielleicht oder hoffentlich irgendwann nebensächlich, aber nur so wird Bewegung möglich sein. Das kulturelle Europa ist uns nicht zu nehmen, lange ist es gewachsen aus der ganzen Welt. Das politische Europa ist mehr denn je Aufgabe von uns allen, noch gibt es überwiegend Demokratie und selbstverständliche Übergänge zwischen dem kulturellen und dem politischen Europa. Hoffen wir, dass es lange so bleibt.

Als utopischer Traum wird wohl für ewig bleiben, dass dieses Modell für die ganze Welt Zukunft hat, dass die Menschen so reif werden, in Frieden und fruchtbringender Diskussion miteinander zu leben.

Dieser Beitrag ist für die Blogparade „Salon Europa“ der Burg Posterstein entstanden, die noch bis 23. Oktober 2018 in Zusammenarbeit mit Tanja Praske läuft.

 

5 Antworten auf „Kultur kennt keine Grenzen

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  1. Liebe Susanne,
    vielen herzlichen Dank für diesen sehr persönlichen Eindruck in DEIN Europa! Es sind so viele wichtige Gedanken dabei, man merkt, wie lange du immer wieder an diese Blogparade gedacht hast. Ich teile absolut deine Meinung, dass wir – jeder, egal wo – wieder miteinander sprechen sollten. Ich habe schon länger das Gefühl, dass die Fronten sich verhärtet haben und dass die Argumentation „Mit solchen wie dir, spreche ich nicht“ zum absoluten Gegenteil führen. Natürlich ist in Europa nicht alles perfekt. Probleme sollten angesprochen und sachlich diskutiert werden dürfen, wobei die Betonung auf „sachlich“ liegt. Die Flucht ins nur Kulturelle bringt uns nicht weiter. Und gleichzeitig sollten wir die Stärken Europas nicht vergessen – Frieden, Freiheit. Ich finde deinen Gedanken, dass Kultur und Politik immer Parallelwelten gewesen sein könnten, extrem interessant. Darüber werde ich sicher noch eine Weile nachdenken.
    Herzliche Grüße aus dem Museum Burg Posterstein!
    Marlene

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  2. warum kommt mir vieles bekannt vor? (ok, ich bin 9 jahre älter. aber es ging in meiner familie vieles ähnlich zu…) – danke für die worte. und die geschichte mitteldeutschlands hat mich genauso gepackt und gehört ja auch zu europa. irgendwie… manchmal sogar im (kaffee-)salon

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    1. Ich finde auch, dass gerade diese persönlichen Geschichten und Eindrücke bereichernd sind, denn man erlebt Europa sehr unterschiedlich, abhängig davon, wo man wohnt und in welcher Zeit man aufgewachsen ist.
      Viele Grüße,
      Marlene

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