Böll entdecken!

Heinrich Böll, der Name begegnete mir in den letzten Jahren häufiger. Natürlich war sein 100. Geburtstag im Dezember 2017 großes Thema im Netz und ich staunte, was ich alles nicht über ihn wusste. Das mag sicher auch daran liegen, dass er bei uns hier in Sachsen nur ganz am Rand ein Thema ist, er ist eben „keiner von hier“. Das einzige Buch, was ich von ihm voher las, war sein Irisches Tagebuch. Es war mir im Vorfeld einer Irland-Reise in den frühen 90ern von Freunden empfohlen worden und somit eines der Bücher, das ich zur Vorbereitung las. Aber: Ich erinnere mich an nichts… also an die Reise schon, aber an das Buch? Nichts…

Nun kam in diesen Tagen im Netz ein neuer Hashtag in Umlauf: #BöllEntdecken – im Rahmen der Max-Mannheimer-Kulturtage in Bad Aibling, die ab 24.1. bis 10.3.2020 stattfinden, ruft Initiator Michael Stacheder zu einer Blogparade Böll reloaded auf. Das ist doch eine gute Gelegenheit, noch einmal genauer herumzustöbern in unserem Bücherregal und siehe da, es fanden sich nunmehr drei Bücher: Irisches Tagebuch, Rom auf den ersten Blick – eine Sammlung von Erzählungen, Briefen und Drehbüchern und Billard um halb zehn. Keine Ahnung, wie sie den Weg zu uns fanden…

Die Suche nach Gelegenheiten, wo ich doch schon einmal etwas von Heinrich Böll gelesen haben könnte, fing an… in der Schule ist es fast unmöglich. Allerdings stieß ich doch in einer Literatursammlung für DDR-Schullektüre auf die Novelle Die Waage der Baleks, wir könnten sie gelesen haben, ich weiß es nicht mehr, die Inhalte ähnelten sich. Damals in der DDR (Schule von 1978-1990) war es für uns sicher sonnenklar: „Ausbeutung der Arbeiter durch die Herrschenden und Besitzenden“ war das Thema, da schreibt man das dazu, was gehört werden wollte. Wenn wir es gelesen haben, dann wurde sicher alles systemgetreu im Aufsatz interpretiert und dann aber ganz schnell wieder raus damit aus dem Kopf! Eigentlich war es mit fast allem so…

Ich weiß nicht mehr, ob man es uns breit aufs Brot schmierte, dass diese Novelle von einem im Westen lebenden Autoren geschrieben wurde, den Namen Heinrich Böll jedenfalls habe ich aus der Schulzeit nicht in Erinnerung, seufz…. manchmal möchte ich eine Zeitreise machen, zurück in meine Schulzeit und die Lehrer einfach nochmal fragen, ob sie echt hinter dem standen, was sie uns erzählten. Wie uns wohl damals von den Lehrern der DDR anhand dieser Novelle wieder der Westen madig geredet wurde? Es kamen bei solchen Gelegenheiten immer die schlimmsten Verfehlungen des Kapitalismus zur Sprache und warum der Sozialismus ja sooo viel besser war. Nun, die Realität, die viele von uns sahen, sah ganz anders aus. Die Mehrzahl von uns hatte irgendwo Westkontakt mit Verwandtschaft oder der Verwandtschaft von Bekannten und da wurden Dinge erzählt, die passten überhaupt nicht zu dem, was wir immer in der Schule erzählt bekamen. Irgendwo sah man Westfernsehen, bunt und ganz anders (bei uns ja nicht – wir im „Tal der Ahnungslosen“ lebten ohne Empfang in Dresden)… Bei uns gab´s keinen Mörtel oder sonstige Baumaterialien, um die Häuser instand zu halten, es gab keine Bananen, es gab keine Walkmans, das brauchte man aus dem Westen, glücklich, wer da „Verbindungen“ hatte… das war unsere Realität. Das war es, was wir sahen und dann erzählt uns irgendsoeine Novelle von permanenter Ausbeutung im Kapitalismus und der Lehrer schwärmt gleichzeitig in den höchsten Tönen von dem Land, in dem wir ja „zum Glück“ leben… Wenn wir das hörten, dachten wir wie so oft sicher auch diesmal: „Wie bekloppt kann man da nur wieder daher reden!“ und drückten den Stempel „Nicht merkenswert!“ auf die Novelle und fertig. Tja, so war´s. Über die Person Heinrich Böll ließ man uns wohl aber sicher lieber im Unklaren…

1989 – die Wendetage, damals war ich in der 12.Klasse an einer EOS. Von einem auf den anderen Tag änderte sich alles! Die halbe Klasse erschien nicht zum Unterricht an dem Tag der Grenzöffnung, sie waren auf dem Bahnhof, um irgendeinen der hoffnungslos überfüllten Züge nach Berlin zu erwischen. Das war noch nie mein Ding. Es vergingen ein paar Wochen, bis ich auch endlich in den Westen fuhr, mit einem Wartburg durch Coburg, wo uns die Coburger mit dem Finger den Vogel zeigten und auch sonst nicht besonders nett waren. Nun ja. Erstbegegnung! Es hat sich später alles relativiert, als ich dann mit dem Fahrrad fuhr und mir Mühe gab, einigermaßen hochdeutsch zu reden. In der Schule arbeiteten wir ab diesem Zeitpunkt auf das erste West-Abi von DDR-Schülern hin, in manchen Fächern mussten wir nicht so viel wissen wie wir gelernt hatten, in anderen mussten wir etwas nachholen, aber wir konnten einiges schon mal über Bord werfen. Das Fach Geschichte begann noch einmal in der Steinzeit, wir kamen bis zu einer irgendeiner Revolution, welche auch immer, dann war Abi (WTF), aber ich glaube, in Geschichte wurde niemand geprüft, weil es nicht ging. Lehrer und Schüler wussten nicht recht… aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Blogpost.

Böll kam noch immer nicht in mein Leben, denn beim Abitur nahm ich mir im Fach Deutsch eine Gedichtinterpretation vor. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich kam sehr gut durch… ich war froh, dass dieses Kapitel Schule endlich geschafft war! Zuviel verordneten Blödsinn mussten wir da von uns geben, viele Jahre stand alles auf der Goldwaage und jede unangepasste Antwort führte zu schlechten Noten oder gar „Durchfall“… nun hätte es anders werden können, aber es war vorbei. 12 Jahre! Ich war froh. Danach widmete ich mich voll und ganz der Musik. Musikalische Dinge und damit zusammenhängende Bücher standen im Vordergrund. Mit Musik hat Böll nichts zu tun, also begegnete ich ihm da nicht. Aber beim Reisen! Mitte der 90er fuhr ich mit drei Freunden nach Irland, wir tourten in einem Miniauto zu viert mit vier Kraxen über die Insel, das dünne Büchlein passte irgendwie dazwischen, ich habe es sicher gelesen, aber ich weiß nichts mehr, außer dass die Reise schön war!

Und nun diese Blogparade und der Aufruf, in den Bücherregalen zu stöbern. Es ergab sich (etwas unfreiwillig) ein Zeitfenster, es wirklich zu tun…

Zu „Irisches Tagebuch“ hatten also im Laufe der Zeit auf mysteriöse Weise noch zwei weitere Böll-Bücher den Weg in unser Bücherregal gefunden. Den Roman ließ ich erst einmal links liegen und begann, in dem anderen Buch herumzulesen. Es beginnt gleich mit den Briefen aus den Kriegsjahren 1940-1943, diese hebe ich mir allerdings auf für die Fahrt nach Bad Aibling Anfang Februar, denn dann werde ich Michael Stacheder vor Ort bei der Böll-Matinee lauschen. Sie erscheinen mir zu diesem Zeitpunkt als zu schwer für einen Einstieg. Ich möchte den Einstieg nicht in Kriegszeiten.

Undines gewaltiger Vater, schon fast in der Mitte des Buches, fällt mir dann als erstes ins Auge und mit dem Titel ist auch gleich ein Ohrwurm aus Carl Reineckes Flötensonate da. Es hat überhaupt nichts miteinander zu tun, aber so sind Musikerhirne, sie fangen dort an, wo sie Musik vermuten, kann man nichts machen…  ¯\_(ツ)_/¯

Was hat Undine für einen gewaltigen Vater? Undine, die Wasserfee mit der tragischen Liebesgeschichte, die eigentlich an der Donau spielt? Ich lese… Es geht um den Rhein, wie soll es anders sein bei Böll! Es wird unterhaltsam. Sommerliche Heiterkeit kann Böll dem Rhein nicht glauben, für ihn ist er dunkel, schwermütig. Er muss es wohl wissen, drei Minuten von ihm entfernt ist er geboren, er spielte an seinen Ufern, er „watete bis zu den Knien im Laub der Alleebäume“ im Herbst und erlebte im Winter Eisschollen „so groß wie Fußballplätze“… für ihn gibt es zwei Rheine, den oberen, den Weintrinkerrhein und den unteren, den Schnapstrinkerrhein. Oh, jetzt wird´s heiter!

„Der Weintrinkerrhein hört ungefähr bei Bonn auf, geht dann durch eine Art Quarantäne, die bis Köln reicht; hier fängt der Schnapstrinkerrhein an; das mag für viele bedeuten, daß der Rhein hier aufhört. Mein Rhein fängt hier an, er wechselt in Gelassenheit und Schwermut über, ohne das, was er oben gelernt und gesehen hat, zu vergessen…“ Also, wie der Herr Böll „seinen“ Fluss beschreibt, das muss man als am drittlängsten Fluss Deutschlands Geborene einfach lieben. Flüsse sind so faszinierend! Wenn ich gelegentlich auf einer Konzertreise in die Rheingegend zwischen Probe und Konzert (zuletzt sah ich den Rhein live bei Bonn) am Ufer herumsitze, begegnet mir der Rhein immer ruhig und ein bisschen langweilig, bin ich doch den Oberlauf der Elbe gewohnt (da gehen die Wasser noch nicht so mächtig breit-ruhig, sondern auch gern mal schmal-flott und ein bisschen trockenzeitbedingt-hektischquirlig). Diese Erzählung war ein feiner Einstieg, der Lust auf mehr machte… ich muss mal wieder an den Rhein…

Als nächstes blieb ich bei Besuch auf einer Insel hängen, der erste Satz hallte in mir wie ein Paukenschlag! „Der eiserne Vorhang ist aus Luft.“ Geschrieben 1952. Oha, denke ich… fahr ich mal mit dem Herrn Böll im Interzonenzug in den Osten dieses „Damals“…

Das Überschreiten dieser deutsch-deutschen Grenze wird beschrieben, Häuser hier und da, sie unterscheiden sich nicht und doch: „die Luftveränderung ist spürbar“. Russen spielen Fußball, Böll hat noch keine Russen in Friedenszeiten gesehen… rot-weiße Spruchbänder sind bei der Weiterfahrt zu sehen: „Frieden, Freiheit, Einheit“… dann Ankunft bei den „Ostgrenzern“, deren Höflichkeit „anders als die ihrer grünen Kollegen drüben“ ist. Jünger, viel jünger sind sie, über einen schreibt er: „Seine Höflichkeit ist wirklich vorwurfsvoll, sie scheint zu sagen: Wir sind gar nicht so, wir sind wirklich nicht so, bestimmt nicht. Es ist die Höflichkeit eines Kindes, das fremden Vorurteilen die eigenen entgegensetzt, aber offenbar ernsthaft angehalten ist, wirklich höflich zu sein.“

Im weiteren Verlauf der Erzählung wird viel gelächelt in den verschiedensten Situationen. Meisterhaft beschrieben in knappen Episoden, ob es nun die Bahnhofsatmosphäre im Westen ist, das Kaufverhalten mit Schwarzmarktatmosphäre, menschliche Begegnungen, Milchmädchenrechnungen beim Geldtausch oder etwa eine „Kunstausstellung mit offiziösem Optimismus“ und „anscheinend gutem Geschmack“ in der ersten Etage, in der ein Käthe-Kollwitz-Bild hängt oder das Witze-Erzählen in einer HO… „Irgend etwas stimmt hier nicht, es stimmt viel nicht.“ oder auch: „Mir ist gar nicht mehr wohl.“ sind nur zwei der letzten Sätze. Ganz am Schluss kommt er zu der Erkenntnis (nachdem er auf der Innenseite seines Zigarettenpapierpäckchens den Spruch: „Sei auch du ein aktiver Friedenskämpfer!“ entdeckte:

„Die Aufforderung als solche ist nicht schlecht, wenn mir auch dieser Jargon recht unsympathisch ist – und ich lächele wieder, lächele wieder naiv und westdeutsch, so wie man über Parolen lächeln kann, deren Bannkreis man entzogen ist.“

Was wäre passiert, wenn wir/ich so etwas in meiner Schulzeit, die wir „im Bannkreis dieser Parolen“ lebten, hätte/n lesen dürfen anstatt „nur“ seine Novelle Die Waage der Baleks? Wie hätte er reagiert, wenn er gewusst hätte, dass man seine Novelle in der Schule bei uns genauso missbraucht hat wie z.Bsp. die Kunst von Käthe Kollwitz (was er in seiner Erzählung beschreibt)? Wie würde er heute im Osten lächeln? Wie viele Menschen lächeln heute naiv westdeutsch über manches im Osten von Deutschland?

Er kann es uns nicht mehr sagen, aber wir können aufmerksam lesen und ich bin nun wirklich neugierig geworden. Vielleicht ist er aktueller denn je, manches kann man auf jeden Fall noch entdecken. Danke für den Anstoß!

4 Kommentare zu „Böll entdecken!

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  1. Bei dem Stichwort „Boell“ muss ich immer an einen Ausspruch meines ehemaligen Deutschlehrers denken. Irgendwie kam die Rede auf Boell, und einer meiner Klassenkameraden erwaehnte die „Ansichten eines Clowns“. Darauf unser Deutschlehrer zu ihm, „Da brauche ich ja nur Sie anzusehen, dann habe ich ‚Ansichten eines Clowns'“. So einen Spruch sollte sich ein Lehrer heutzutage mal leisten!

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  2. Eine sehr schöne und persönliche Hommage an einen oftmals unter Wert gehandelten Autoren! Ich mochte Böll schon immer – auch wegen seiner Haltung. Ein „Gutmensch“, wie man heute wieder verächtlich sagt. Und auch literarisch finde ich ihn besser, als es die öffentliche Kritik zulässt. Danke auch fürs aufmerksam machen auf den Hashtag, davon habe ich noch gar nichts mitbekommen.

    Liebe rüße, Birgit

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